Der Geschäftsbericht 2021 bietet wie gewohnt einen Überblick aller Aktivitäten von Arbeit und Leben NRW. Im Themenschwerpunkt stehen Beispiele aufsuchender politischer Bildungsarbeit im Mittelpunkt. Mehr Nähe zu den Menschen herzustellen, die von politischer und sozialer Bildung profitieren sollen, ist eine der wichtigsten Aufgaben der kommenden Jahre. In einem Interview zu dem Themenschwerpunkt teilt Prof. Dr. Helmut Bremer seine langjährigen Erfahrungen und liefert Denkanstöße zur Weiterentwicklung aufsuchender Bildungsarbeit.
Es müssen Vernetzungen aufgebaut werden, die (mehr) Nähe zu den Menschen haben
Aufsuchende politische Bildungsarbeit bekommt in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit, dabei ist die Idee gar nicht mehr ganz so neu. Seit wann setzen Sie sich damit auseinander und wie sind Sie dazu gekommen?
Tatsächlich ist die Idee der „aufsuchenden Bildungsarbeit“ nicht neu. Hier kann man an Paolo Freires Arbeiten zur „Pädagogik der Unterdrückten“[1] aus den 1960er Jahren erinnern. Die Alphabetisierungsarbeit, um die es da oft ging, hat er explizit als „politische Alphabetisierung“ bezeichnet. Es muss immer auch darum gehen, Menschen, die es schwer haben – und denen es schwer gemacht wird – ihre Interessen zu artikulieren und sichtbar zu machen, bei den damit verbundenen Bildungsprozessen zu unterstützen. Mein Interesse an „aufsuchender Bildungsarbeit“ resultiert aus meiner intensiven Beschäftigung mit sozialer Ungleichheit und wie sich das im Bildungswesen und im Bereich des „Politischen“ ausdrückt. Pädagogik kann das nicht alles verändern, weil die Ursachen auch außerhalb des Pädagogischen liegen, aber die Pädagogik bzw. „das Bildungswesen“ muss sich damit beschäftigen, an welchen Schrauben sie drehen kann. Und eine Möglichkeit ist, wie die Distanz – sozial und kulturell – zu denjenigen verringert werden kann, für die Bildungseinrichtungen (oder auch „die Politik“) immer eher etwas von einem „Auswärtsspiel“ haben. Es ist eher eine fremde Welt, man fühlt sich nicht zu Hause, oder, wie es Hans Tietgens[2] in seiner bekannten Untersuchung zum Verhältnis von Industriearbeitern und Volkshochschulen ausgedrückt hat, nicht eingeladen. Das gründet oft auf biographischen Erfahrungen. Anfang der 2010er Jahre hatten wir dann als Forschende die Möglichkeit, im Rahmen von Projekten Weiterbildungseinrichtungen dabei zu begleiten, wie sie neue Wege gegangen sind, um Personen zu erreichen, die in der Regel nicht oder wenig an Angeboten teilnehmen[3]. Das waren nicht nur, aber auch politische Angebote. Es wurden Vernetzungen mit anderen Akteuren aufgebaut, Lebensweltnähe hergestellt, Schlüsselpersonen (Brückenmenschen, Vertrauenspersonen) gewonnen. Auf diese Weise wurden Themen generiert, Angebote entwickelt (in und außerhalb der Einrichtungen), kurz: „Geh-Strukturen“ aufgebaut, in denen sich Konturen „aufsuchender Bildungsarbeit“ zeigten. Und siehe da, die Personen waren keineswegs „bildungs- und politikfern“, wie häufig vermutet, wenn man ihnen auf diese Weise begegnet. Das waren sehr spannende Prozesse, die auch bei den beteiligten Pädagog*innen und den Bildungseinrichtungen insgesamt immer wieder „Aha-Erlebnisse“ ausgelöst haben.
Wenn man sich mit dem Thema befasst, schwirren neben aufsuchender Bildungsarbeit schnell auch unterschiedliche andere Begrifflichkeiten durch den Raum, zum Beispiel Community Organizing oder sozialräumliche Orientierung. Jenseits der Namen der unterschiedlichen Konzepte, was ist der verbindende Kern, um den es geht?
Das Verbindende ist sicherlich, dass man versucht, Nähe herzustellen und dabei eingefahrene Wege verlässt, und wie wir im Anschluss an Horst Siebert[4] sagen, „Komm-Strukturen“ durch „Geh-Strukturen“ ersetzt bzw. ergänzt. Das direkte Lebensumfeld, das Quartier, eben der „Sozialraum“ oder die „Lebenswelt“, wo sich der Alltag abspielt und wo die (auch politischen) Themen ihren Ursprung haben, die für die Menschen wichtig sind, das alles gerät in den Fokus. Es geht um ein vertieftes Kennenlernen und (im Sinne Pierre Bourdieus[5]) um das „Verstehen“. „Aufsuchende Arbeit“ führt dann beinahe zwangsläufig zu Begriffen und Konzepten wie „Sozialraum“, „Lebenswelt“ oder „community education“.
Wie lässt sich wieder mehr Nähe zu den Menschen herstellen?
Es müssen zum einen Vernetzungen aufgebaut werden, mit Einrichtungen, Initiativen, Vereinen usw., die (mehr) Nähe zu den Menschen haben, die Distanz zu institutionalisierter Bildung und „Politik“ aufweisen. Das können Stadtteilvereine, Wohlfahrtsverbände, Kindertagesstätten, städtische Einrichtungen usw. sein. Damit verbunden ist dann auch oft, dass Orte des Sozialraums, des Quartiers als (politische) Lernorte pädagogisch neu erschlossen werden. In den Demokratiewerkstätten der Landeszentrale für politische Bildung NRW geschieht das sehr häufig. Daneben ist das aber fast immer auch verbunden mit reflexiven Prozessen „in den Köpfen“ der Bildungsarbeiter*innen; bestehende Bilder von den Zielgruppen werden in Frage gestellt und korrigiert und „Milieusensibilität“ entwickelt, Routinen und Abläufe in Bildungseinrichtungen werden hinterfragt, Zusammenarbeit mit anderen Professionen und Disziplinen werden neu gestaltet. D.h., es werden spezifische Professionalisierungsprozesse in Gang gesetzt.
Es wird oft von bildungsfernen Schichten gesprochen. Müssten wir etwas selbstkritischer nicht auch über menschenferne Bildung und Strukturen reden?
Das ist richtig. Adressat*innen (politischer) Bildung sind heterogen, sie kommen aus unterschiedlichen sozialen Milieus, das wissen wir alle. Aber wir müssen genauer reflektieren, wer zu unseren Angeboten Nähe, „Affinität“ oder „Passung“ hat, sowohl was Themen und Inhalte, aber auch was das Format, das Setting, die Vermittlungsform, der Lernort usw. betrifft. Noch immer wird beispielsweise beklagt, dass Angebote der politischen Bildung stark textbasiert sind, was natürlich für Adressat*innen mit geringer Schriftsprachbeherrschung sehr schwierig ist. Oder dass Alphabetisierung häufig schulisch vermittelt wird und nicht immer anschlussfähig ist an Alltag und Lebenswelt. Auch in Bezug auf politische Bildung muss die Perspektive immer auch sein, wie „Politik“ im weiteren Sinne den Menschen im Alltag erscheint?
Viele Menschen verbringen einen relevanten Teil ihres Lebens online. Müsste aufsuchende politische Bildungsarbeit nicht auch im digitalen Kontext weitergedacht werden?
Natürlich gibt es politische Bildungsarbeit auch im digitalen Raum. Aber was es heißt, dies aus der Perspektiven des „Aufsuchens“ zu denken, ist bisher kaum entwickelt worden. Vereinfacht gesagt: „Weiterbildungseinrichtungen stehen jedem offen, aber nicht alle gehen hin“. Das ist auch auf die digitale Welt zu übertragen, wo ja im Prinzip auch alle zu allem Zugang haben – theoretisch. Also was sind Gründe für Beteiligung und Nicht-Beteiligung, dem muss analog wie digital genauer nachgegangen werden.
Die Lebensräume von Menschen sind sehr vielfältig und Zugänge nicht immer leicht zu finden, die interdisziplinäre Zusammenarbeit über Organisationsgrenzen hinweg wird deshalb immer wichtiger. Was sind ihrer Erfahrung nach die wichtigsten Gelingensbedingungen dafür?
Was die interdisziplinäre Zusammenarbeit betrifft: Man muss bereit sein, eigene disziplinäre Sichtweisen und Handlungsroutinen zu reflektieren und sich auf andere einzulassen. Das taucht zum Beispiel in Bezug auf Soziale Arbeit und politische Bildung immer wieder auf an Fragen wie: „Was ist Lebensbewältigung? Wo beginnt Bildungsarbeit“? Also ein bisschen: „Was ist Deins? Was ist meins?“ Hier ist es dann oft erforderlich, eigene berufliche Selbstverständnisse zu hinterfragen und ggfs. zu verändern. Oft entstehen ja aus oder in der „aufsuchenden Arbeit“ neue Formate jenseits der Kursförmigkeit, wie man sie aus der politischen Bildungsarbeit kennt, und die stärker am alltäglichen Handeln der Lernenden orientiert sind. Da muss man dann neu denken, wie man das in politische Bildung umsetzt.
Projekte bieten eine gute Möglichkeit, um neue Zugänge zu erproben und Kooperationen zu etablieren. Gleichzeitig kann es aber nicht Sinn der Sache sein, Zukunftsthemen hauptsächlich in zeitlich begrenzten Strukturen zu bearbeiten. Sie haben unterschiedliche Projekte wissenschaftlich begleitet. Wo sehen sie die Stärken und wo die Grenzen von Projekten?
Das lässt sich leicht auf den Punkt bringen: Die Stärke ist, dass man Neues ausprobieren kann, jenseits bisheriger Routinen und Abläufe, neue Erfahrungen machen kann. Und es kann auch mal etwas schief gehen, jedenfalls sollten Projekte so angelegt sein, dass Vorhaben „scheitern“ können. Die Grenzen sind dann natürlich immer darin, dass Projekte enden und die Gefahr, die vermutlich alle kennen, dass Strukturen, die oft mühsam aufgebaut wurden, nicht weitergeführt werden und Erkenntnisse sozusagen in der Schublade bleiben. Das ist oft sehr misslich, auch aus Sicht der Adressat*innen, für die ja dann Angebote wegbrechen.
Das novellierte Weiterbildungsgesetz Nordrhein-Westfalen (WbG) sieht zweieinhalb Prozent des für die Einrichtung möglichen Höchstförderbetrages als Entwicklungspauschale vor. Das soll Weiterbildungseinrichtungen in die Lage versetzen, auf „aktuelle gesellschaftliche und strukturelle Herausforderungen“ für ihr Bildungsangebot zu reagieren. Wie bewerten Sie das neue WbG insgesamt und reicht eine solche Entwicklungspauschale, um Lösungen für die vielfältigen Herausforderungen zu entwickeln?
Ich will mal so sagen: Das ist aus meiner Sicht ein Schritt in die richtige Richtung, weil es den Einrichtungen, die Neues ausprobieren wollen, das in die bisherige Förderlogik nicht passt, ermöglicht, das zu realisieren. Und die „aufsuchende Bildungsarbeit“ ist dabei auch ausdrücklich mit benannt. Die Deckelung von anfangs 2,5% verweist zugleich darauf, dass die Möglichkeiten begrenzt sind bzw. auch sein sollen, ein bisschen „auf halbem Wege stehen bleiben“. Was das etwa für das Problem der angesprochenen Verstetigung von Strukturen bedeutet, muss man abwarten.
Auch wenn es vielleicht etwas kitschig klingt: Wenn Sie sich in Bezug auf die Weiterbildungslandschaft in Nordrhein-Westfalen etwas wünschen dürften – von der Landesregierung, den Parteien oder den Trägern selbst – was wäre das?
Ich betrachte tatsächlich die wachsende soziale Ungleichheit als das größte gesellschaftliche Problem, das auch Ursache vieler Konflikte ist. Von daher wäre mir wichtig, dass dieses Thema stärker in den Fokus rückt und zu Konsequenzen führt. Warum sollte es nicht ähnlich wie „gender mainstreaming“ eine Art „social mainstreaming“ geben?
[1] Freire, Paolo (1971): Pädagogik der Unterdrückten. Stuttgart: Klett
[2] Tietgens, Hans (1978 [1964]: Warum kommen wenig Industriearbeiter in die Volkshochschule? in: Schulenberg, Wolfgang (Hrsg.): Erwachsenenbildung, Darmstadt, S. 98-174
[3] Bremer, Helmut/Kleemann-Göhring, Mark/ Wagner, Farina (2015): Weiterbildung und Weiterbildungsberatung für „Bildungsferne". Ergebnisse, Erfahrungen und theoretische Einordnungen aus der wissenschaftlichen Begleitung von Praxisprojekten in NRW. Bielefeld: wbv.
[4] Siebert, Horst (2004): Methoden für die Bildungsarbeit. Bielefeld: wbv.
[5] Bourdieu, P, (1997). Verstehen. In: P. Bourdieu u.a. (Hrsg.), Das Elend der Welt, (S. 779-802). Konstanz: UVK.