Der Geschäftsbericht 2022 bietet wie gewohnt einen Überblick aller Aktivitäten von Arbeit und Leben NRW. Der thematische Schwerpunkt ist dieses Jahr anlässlich des anstehenden 60.Jahrestag des Elysée-Vertrages die deutsch-französische Bildungsarbeit. Seit der Gründung kooperiert der Jugendbildungbereich von Arbeit und Leben NRW mit dem Deutsch-Französischen Jugendwerk um internationale Jugendbegegnungen zu ermöglichen. Wir hatten das Privileg den Generalsekretär des DSJW Tobias Bütow zu seinen Erfahrungen zu interviewen.
,,Die deutsch-französische Zusammenarbeit gleicht einem politischen Wunder und zeigt jeden Tag, was Menschen und Gesellschaften gemeinsam gestalten können.''
Stellen sie sich vor sie treffen auf einer Party jemanden, der noch nie etwas vom deutsch-französischen Jugendwerk (DFJW) gehört hat. Wie würden sie in wenigen Sätzen erklären was das DFJW ausmacht?
Die deutsch-französische Zusammenarbeit gleicht einem politischen Wunder und zeigt jeden Tag, was Menschen und Gesellschaften gemeinsam gestalten können. Als eine Internationale Organisation für junge Menschen hat das Deutsch-Französische Jugendwerk seit 60 Jahren dazu beigetragen, dass aus Feinden Freunde wurden. Das ist nicht zuletzt das Verdienst von tausenden von Partnern, die Jahr für Jahr gemeinsam mit dem DFJW tausende grenzüberschreitende Austausche und Begegnungen ermöglichen. Diese sind oft lebensprägend für junge Menschen, denn sie bieten die Möglichkeit in einer Gastfamilie zu leben, den Alltag eines anderen Landes zu erleben und Selbstwirksamkeit zu erfahren. Nach einem Austausch gehen junge Menschen oft selbstbewusster durch das eigene Leben.
Kommen solche Situationen tatsächlich noch vor oder ist das DFJW so bekannt, dass es keiner Erklärungen mehr bedarf?
Natürlich kennen viele junge Menschen das DFJW nicht. Und das ist auch vollkommen in Ordnung. Denn was ist wirklich wichtig? Dass die Grundidee eines grenzüberschreitenden Austauschs jedem jungen Menschen bekannt ist. Ob mit Frankreich oder mit einem anderen Partnerland: Austausch ist ein Angebot für jeden jungen Menschen. In Deutschland wollen 65% der jungen Menschen einen Austausch erleben, erfahren davon jedoch oft zu spät oder trauen sich ein solches Projekt nicht zu. Nur einem Viertel junger Menschen in Deutschland kommt dieses Glück zugute. Es geht also darum, möglichst viele junge Menschen darüber zu informieren, welche Angebote bestehen, Sie für eine europäische Erfahrung zu begeistern und zu vermitteln, dass Sprachkenntnisse oder der Geldbeutel der Eltern keineswegs Zugangsvoraussetzungen für einen deutsch-französischen Austausch sind.
In diesem Jahr feiert der Élysée-Vertrag seinen 60. Geburtstag. Die deutsch-französische Freundschaft ist keineswegs selbstverständlich und in ihrer historischen Bedeutung wohl kaum zu überschätzen. Wie sehen Sie den Zustand der Beziehung heute?
Die deutsch-französische Freundschaft ist einzigartig. Keine andere bilaterale Beziehung wird so intensiv gelebt und tagtäglich erarbeitet. Es gibt mehr als 2.200 Städtepartnerschaften, mehr als 3.000 universitäre Kooperationen und eine ungezählte Zahl deutsch-französischer Kinder. Das DFJW hat seit 1963 mehr als 9,5 Millionen junge Menschen erreicht. Dass Institutionen, Parteien und Regierungen komplementäre Interessen haben, ist nicht verwunderlich. Sei es in der Bildungspolitik, in der Nuklearenergie, der Finanzpolitik oder der Außenpolitik. Doch in der Europäischen Union wurde und wird Kompromissen oft mit deutsch-französischen Debatten der Weg bereitet. In den Medien finden bisweilen Skandalisierungen von Nebensächlichkeiten statt. Was zählt, sind die stabilen Netzwerke des Vertrauens, die in 60 Jahren gewachsen sind und die auch von einem wechselseitigen Wissen um Präferenzen, Prägungen und Entscheidungsprozesse im anderen Land geprägt sind. Nur gemeinsam können wir die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts meistern.
Gibt es Unterschiede in der Wahrnehmung von deutscher und französischer Seite?
Selbstverständlich, das fängt bereits bei den Begrifflichkeiten an. In Deutschland spricht man viel vom deutsch-französischen Motor im Französischen ist der Begriff couple sehr viel verbreiteter. Auch heutzutage gilt es noch Aufklärungsarbeit zu leisten, Vorurteile abzubauen und Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu erklären. Es geht hier auch um Erinnerungsarbeit. Denn unsere beiden Länder eint eine komplexe und eng miteinander verflochtene Geschichte, die man sich immer wieder aneignen sollte, um sich gegenseitig zu verstehen.
Was hören Sie am häufigsten als Wunsch von französischen Gesprächspartner*innen in Richtung Deutschland gerichtet?
Endlich eine Direktzug-Verbindung von Berlin nach Paris, mit Nachtzug inklusive. Und pünktliche Züge in Deutschland. Hier können wir in der Tat von Frankreich lernen.
Sie sind seit vier Jahren Generalsekretär des DFJW. Was war Ihr schönstes Erlebnis in dieser Zeit?
Unser Jugendkonzert im Pantheon am 22. Januar 2023. 70 junge Menschen aus Paris und Berlin musizierten gemeinsam, darunter auch mehrere Geflüchtete, die erst wenige Tage vor dem Konzert eine innereuropäische Reiseerlaubnis nach Frankreich erhielten. Es war für uns der krönende Abschluss des 60. Jahrestags des Elysée-Vertrags. In Zeiten des Krieges in Europa ein bewegendes Zeichen.
Wie so häufig profitieren auch in der deutsch-französischen Jugendarbeit Jugendliche aus sozial benachteiligten Verhältnissen seltener von Angeboten. Die Initiative Route NN versucht daran etwas zu ändern und zugleich die Partnerschaft zwischen Nordrhein-Westfalen und Hauts-de-France zu stärken. Wie sehen Sie die bisherigen Entwicklungen und was ist das langfristige Ziel?
Das DFJW fördert Jugendbegegnungen in ganz Deutschland und Frankreich, nicht nur zwischen den Großstädten, sondern auch in Vorstädten, in strukturschwachen Regionen oder in ländlichen Gebieten. Unser Ziel ist es, unsere Programme weiterzuentwickeln, Partnernetzwerke zu erweitern und dadurch auch mehr jungen Menschen die Teilnahme an interkulturellen Begegnungen zu ermöglichen.
Gleichzeitig sind die Probleme und Herausforderungen, denen junge Menschen gegenüberstehen, genauso vielseitig wie ihre individuellen Interessen und Lebensrealitäten. Seit 2015 arbeiten wir daher im Rahmen der Strategie „Diversität und Partizipation“ aktiv daran, gemeinsam mit unseren Partnern Hürden abzubauen und chancengerechtere Zugänge zum Austausch zu schaffen. Und das erfolgreich: Seit 2020 waren jedes Jahr in DFJW-geförderten Projekten mehr als 20% der Teilnehmenden mobilitätsferne junge Menschen.
Regionale Fachkräfte-Netzwerke wie die Route NN sind entscheidend, um dies zu erreichen. Gleichzeitig ermöglicht die Vernetzung und der Erfahrungsaustausch zwischen Fachkräften, gemeinsam Lösungen zu finden, die an die Besonderheiten der Regionen angepasst sind, und neue Partner zu mobilisieren, die bisher noch nicht deutsch-französisch arbeiten. Die regionale Verankerung der koordinierenden Partnerorganisationen, zu denen auch Arbeit und Leben NRW im Rahmen der Lenkungsgruppe gehört, ist unverzichtbar.
Während der Covid 19-Pandemie mussten von heute auf morgen seit Jahrzehnten bewährte Formate in den digitalen Raum verlegt werden. Wie überall in der Jugendarbeit und Weiterbildung hat sich auch hier gezeigt, dass Präsenz immer das wünschenswertere Format bleibt. Was nehmen Sie dennoch an Impulsen aus dieser Zeit mit und welche Rolle sollen digitale Elemente zukünftig in der Begegnungsarbeit des DFJW spielen?
Die Pandemie hat Folgen gezeitigt, die bis heute spürbar sind. Der Nachholbedarf ist enorm. Doch die Pandemie war auch ein Innovationsprozess, ja. Digitale Formate sind eine sehr gute Ergänzung zu Präsenzbegegnungen geworden, sei es in der Vor- und Nachbereitung, der Kontaktpflege im Alltag oder für gemeinsame Aktionen zwischen zwei Begegnungsphasen. Die wichtigste Erkenntnis bleibt jedoch: Die deutsch-französische Jugendarbeit hat einen hohen Grad an Kreativität, Flexibilität und Resilienz bewiesen. Gemeinsam waren wir während der Pandemie für junge Menschen da.
Was werden davon abgesehen die wohl wichtigsten Weiterentwicklungen in der Arbeit des DFJW in den kommenden Jahren?
Wir stellen nunmehr Klima- und Umweltschutz in das Zentrum der Austausche. Ab 2024 werden wir Treibhausgas-Emissionen bei An- und Abreise berechnen, denn diese machen 90% der Emissionen von Veranstaltungen oder Jugendbegegnungen aus. Es muss darum gehen, klimasensibel zu reisen, Treibhausgasemissionen abzubauen und das Engagement junger Menschen für Umwelt- und Klimaschutz zu stärken. Unsere Jugendstudie hat gezeigt: Viele junge Menschen in Deutschland und Frankreich fühlen sich ohnmächtig ob des Klimawandels. Es geht darum, Ohnmacht in Engagement zu wandeln. Weiterhin ist es dramatisch, wie wenig junge Menschen in Deutschland und Frankreich der Demokratie und politischen Institutionen vertrauen. Demokratieförderung, politische Bildungsarbeit, vor allem aber Teilhabe und Partizipation müssen gestärkt werden, auch mit Blick auf die Europawahlen 2024.
Was würden Sie sich in diesem Zusammenhang von Arbeit und Leben in Nordrhein-Westfalen wünschen?
Weiter so! Wir danken für die vertrauensvolle und erfolgreiche Zusammenarbeit in dynamischen Zeiten.